Sechs Jahre hat der Regisseur Armin Biehler an seinem Stoff gearbeitet. Autobiografische Erinnerungen, Gefaengnisbesuche, unzaehlige Gespraeche mit Gefangenen aber auch mit Gefaengnisdirektoren bilden die Grundlage, auf der die Geschichte von Chicken Mexicaine gewachsen ist.

Ueber zwei Jahre hinweg probt Armin Biehler mit den SchauspielerInnen in einem alten Knast. Waehrend dieser Zeit lebte er alleine im leer stehenden Gefaengnis. Dann legt er das Drehbuch der Gefangenenlesegruppe des groessten Schweizer Gefaengnis vor. Fazit: Das Leben draussen und drinnen ist so unterschiedlich nicht. Eingesperrt sind viele, sei es in ihrem eigenen Leben, oder durch die Hand anderer. Raus wollen alle. So ist "Chicken Mexicaine" ein Knastfilm, der mit Kraft seines Galgenhumors unterhaelt und seiner ueberraschenden Poesie beruehrt.

Im folgenden Interview unterhaelt sich der Journalist Michael Koerte mit Armin Biehler ueber die Entstehungsgeschichte des Filmes, die Dreharbeiten, die Entwicklung der Konzepte fuer Musik und Montage und beruehrt die Entwicklung Armin Biehlers vom Dokumentarfilm zum Spielfilm.


Michael Koerte: Herr Biehler, Sie haben lange in diesem Gefaengnis gearbeitet, gelebt, gedreht. Die Dreharbeiten sind abgeschlossen, der Film „Chicken Mexicaine“ ist fertig. Mussten Sie aus dieser Gefangenschaft wieder ausbrechen?

Armin Biehler: Das Gefaengnis hat mich bei der Arbeit an "Chicken Mexicaine" physisch begleitet. Ich habe im Fluegel 2, Zelle 145 lange gewohnt und entschieden am Drehbuch gearbeitet. Gut, ich war in der komfortablen Lage, einen Schluessel zu besitzen. Es war fuer mich sehr wichtig, dass ich mich in einer Umgebung befand, wo das Immaterielle des Gefangenseins mitschwingt. Dadurch, dass das Gefaengnis seit einem Jahr leer steht, hatte ich die beste Voraussetzung. Die Vorstellung, dass in dieser ueber hundertvierzig Jahre alten Strafanstalt tagtaeglich die Gefangenschaft praktiziert wurde, hat mich gepraegt. Dazu gehoeren Anekdoten zum Thema des physischen Ausbruchs, ebenso wie Wandinschriften der Gefangenen, die Zeugnis vom Ausbruch aus dem eigenen Kopf ablegen. Schliesslich ging es darum, die immaterielle Geschichte der verblichenen Insassen und der leeren Raeume zu materialisieren. Die verdichtende Rekonstruktion verwandelte das leer geraeumte Gefaengnis erst zur Buehne und dann zum Filmstudio. Waehrend sechs Jahren habe ich mich mit „Chicken Mexicaine“ beschaeftigt und im letzten Jahr war ich vollkommen von dem Film in Beschlag genommen. Diese Hingabe kam durchaus einem Eingeschlossensein gleich. Jetzt bin ich in der Phase der Resozialisierung, des Wiederankommens in der Aussenwelt. Und die wieder erlangte Freiheit macht mir doch gewisse Schwierigkeiten.

MK: Was haben Sie in dieser Zeit ueber den Film an sich und ueber sich selbst gelernt?

AB: Das ist nicht trennbar. Das Praktizieren der Disziplin „Spielfilm“ und der Weg, den man dabei geht, praegen einem auch als Person. Die Erfahrungen sind derart intensiv, dass man zu einem anderen Menschen wird. Sehr gefordert hat mich waehrend der Dreharbeiten die konzentrierte Zusammenarbeit mit vierzig Menschen, die alle hochsensibel sind und ihr Bestes geben wollen. Ich habe gelernt, dass ich als Regisseur das Zentrum darstelle, die Mitte aller Vorstellungen. Bei mir versammelten sich die Idee der Kamera, des Lichts, der weiteren technischen Bereiche sowie die Gestaltung, der Ausstattung und das Spiel der Schauspieler. Beim Drehen befinde ich mich im Umgang mit Menschen, die in eine ganz bestimmte Richtung gehen, die ich selber vorgebe, da die Handlungen vorher von mir ausgedacht und geschrieben worden sind. In dieser Phase der Materialisierung waehrend der 25 Drehtage, die unter einem enormen Zeit- und Gelddruck standen, musste ich einerseits eine starke Fuehrung halten und andererseits Raeume fuer ein unbekuemmertes Suchen oeffnen: ich musste mich zurueckfallen lassen, um in einem Bruchteil eines Moments wieder nach vorne zu gehen und zu sagen, wo’s lang geht. Ich befand mich in einem dauernden Zustand des Pendelns. Das war sehr intensiv und anstrengend. Manche sagen ja, Film sei eine athletische Disziplin. Auf alle Faelle habe ich mich in Extremsituationen kennengelernt und bin nach der letzten Klappe weinend zusammengebrochen. Das war wunderschoen, denn alle lagen sich dann in den Armen. Ich denke, wir waren auf einer Expedition und haben uns alle sehr lieb gewonnen.

MK: Der Film handelt von einem Ausbruch aus der begrenzten Welt des Gefaengnisses. Nun spielt er in der Schweiz, die manche Leute auch als Gefaengnis sehen. Ist "Chicken Mexicaine" ein Schweizer Film, ein Film ueber die Schweiz oder einfach ein Film in der Schweiz?

AB: Ich wuerde mal sagen: von allem ein bisschen. Gemaess dem produktionstechnischen Kriterium ist er sowieso ein Schweizerfilm, denn das Geld fuer den Film kommt aus der Schweiz. Grundsaetzlich ist "Chicken Mexicaine" ein Film ueber einen Menschen, der sich als Straftaeter in einer physischen Gefangenschaft bewegt und dort seine eigenen Grenzen kennen lernt. Er will seine eigene Gefangenschaft ueberwinden. Dadurch, dass er physisch eingesperrt ist, ist seine geistige Befreiung ganz klar damit verbunden, auch die physischen Mauern zu ueberwinden. Das ist mal die Grundlage. Er wird zu einem neuen Menschen. Roby Schmucker wird innerhalb dieser 96 Minuten Film zu Jonathan Schwarz. Wie weit das jetzt damit verbunden ist, dass es gerade dieses Land ist, in dem wir das gemacht haben, muss ich auch dem Zuschauer ueberlassen. Trotzdem ist es meine Absicht, eine Position zu beziehen, und zwar die Position, die ich zu dem Land habe. Die physische Gefangenschaft ist eine geografisch unabhaengige Kategorie – eingesperrt ist eingesperrt. Das Erleben seiner eigenen Grenzen und der Wille seine eigenen Ketten – seien sie individuell oder sozial bedingt – zu sprengen, ist ein Thema, das vermutlich zum Menschsein, zur Veraenderung der eigenen Person, der Familienverhaeltnisse oder der sozialen Situation gehoert. Dass der Film in einem Schweizer Gefaengnis und in einer nordafrikanischen Stadt spielt, gibt der Geschichte natuerlich eine besondere Ausdrucksform. Es gibt den Versuch, auf die grundlegenden Fragen der Eingeengtheit und der Vorstellung vom Paradies zu sprechen zu kommen. „Chicken Mexicaine“ fokussiert dies in der Frage der Beziehungen innerhalb der Familie. Es ist das Verhaeltnis zu ihren Kindern, das die Antagonisten Roby Schmucker als Gefangener und Johannes Schwerdfeger als Direktor zur Handlung treibt. Schwerdfeger wird von der Taetigkeit seines Sohns eingeengt und Roby Schmucker sucht im Wunsch, seine Tochter wieder zu sehen, die Freiheit. So ist einerseits der Wunsch nach Familie und andererseits der Konflikt innerhalb der Familie sowie die Konfrontation mit der eigenen Liebesfaehigkeit, die Schmucker und Schwerdfeger paradoxerweise zu Verbuendeten macht, da ja beide ihren Kindern kein Vorbild sind. Der Wunsch nach Familie und Aufgehobenheit braucht einen geografischen Ort, die Heimat. Der Gedanke hinter dem wunderschoenen Duerrenmatt-Zitat, dass die Schweiz ein Gefaengnis sei, wo die Aufseher gleichzeitig die Gefangenen sind, ist mir als Lebensgefuehl bekannt und kommt in „Chicken Mexicaine“ kaleidoskopartig zum Vorschein. Alle Figuren oszillieren zwischen dem Wunsch nach Freiheit und der Ohnmacht des Scheiterns. Die Aufseher singen im Alkoholdusel am Silvester im Keller des Gefaengnisses: "Hier wollen wir nicht mehr raus, aus diesem Schaellehuus", was das Verhaeltnis der Aufseher zu den Gefangenen dann auch ganz klar wiederspiegelt. Ich denke, „Chicken Mexicaine“ ist ein Film in der Schweiz und ueber die Schweiz. Einfach ein Schweizer Heimatfilm aus dem Knast. Eben ein Schweizer Film, der in die Freiheit fuehrt.

MK: Koennen Sie in dieses Gefuehl, irgendwo rein zu kommen, aber gleich wieder raus zu wollen, persoenlich nachempfinden?

AB: Grundsaetzlich kann man sagen, dass ich in meinem bisherigen Lebenslauf immer wieder Augenblicke erlebte, in welchen ich wusste, dass ich hier raus muss. Ich wollte den Ueberblick ueber die Situation kriegen, in der ich mich jeweils befand; weg gehen, um nachdenken zu koennen. Diesbezueglich gab es einen ganz wichtigen Moment in meinem Leben: ich bin mit 17 von zuhause ausgezogen und habe die Schule, Schule sein lassen. Ich kenne, wie wir alle, den Willen auszubrechen und das ist etwas, was in "Chicken mexicaine" eine wichtige Rolle spielt: der Wunsch nach Veraenderung, das Weg-wollen, aber das gleichzeitige Nicht-koennen, weil man entweder Angst hat oder die Bedingungen es nicht zulassen. Veraenderung ist immer auch Konfrontation. Dies ist eine starke Triebfeder – kann auch in eine Getriebenheit ausarten, was nicht weiter schlimm ist. Mein Antrieb zum Schreiben einer Geschichte ist gleichzeitig auch mein Antrieb, mit dem Leben umgehen zu wollen, und zwar insofern, als ich sage, ich muesse Distanz finden, muesse weg, um klar zu kriegen, was stattgefunden hat. Und in diesem Sinn ist auch "Chicken Mexicaine" sicher ein autobiographischer Film.

MK: Koennen Sie sich noch an den Moment erinnern, wo Ihnen zum ersten Mal diese Geschichte in den Sinn gekommen ist? Gab es ein spezielles Erlebnis, ein Ausloesemoment, wo Sie zum ersten Mal an diese Geschichte gedacht haben?

AB: Die Initialzuendung fuer "Chicken Mexicaine" war das Erlebnis waehrend eines Besuches bei einem langjaehrigen Freund im Gefaengnis. Nachdem dieser die Steuererklaerung ueber mehrere Jahre hinweg nicht abgegeben und dann irgendwann den Briefkasten nicht mehr geleert hatte, wurde er verhaftet. Als er dann bereits zwei Monate im Gefaengnis sass, ging ich ihn besuchen. Er hatte ziemlich abgenommen und war total duenn. Ich fragte ihn: "Sag mal, was ist hier los, bekommst du hier kein Essen?" Worauf er antwortete, es gaebe hier schon sowas, was Essen genannt werde, aber …“ Dann beschrieb er in allen Einzelheiten das Aussehen und die geschmackliche Wirkung des letzten Mittagessens, das es immer am Dienstag geben wuerde und "Chicken mexicaine" hiesse. Diese Episode hat mich dann nicht mehr losgelassen und es war mir irgendwann ziemlich klar, dass der Film in dem Gefaengnis spielen muss, wo dieses "Chicken mexicaine" gekocht wurde. So sieht das im Rueckblick aus, aber schluessig ist das nur, weil der Film ja jetzt fertig ist. Denn eigentlich ist die Entstehung eines Filmes nie an einem Moment festzumachen. Ich habe sechs Jahre an dieser Geschichte und der Umsetzung dieses Spielfilms gearbeitet. Da gab es immer wieder Schluesselerlebnisse, die Sicherheit gaben und das Projekt vorangetrieben haben, aber auch genau so starke Einschnitte, die alles wieder in Frage gestellt haben. Ausserdem habe ich mich ja ueber diesen Zeitraum selber auch entwickelt, somit hat sich meine Wahrnehmung ebenso veraendert. Allerdings war mir von Anfang an klar, dass ich das Gefaengnis als Metapher bearbeiten moechte, dass ich wissen will, was mit Menschen passiert, wenn sie eingeschlossen sind. Jetzt will ich hier meine eigene bescheidene Gefaengniserfahrung nicht an die grosse Glocke haengen. Aber in der Zeit, wo wir als Jugendliche in den 80er Jahren damit konfrontiert waren, dass man eingesperrt werden konnte, wenn man beispielsweise im Vollsuff das mit Blaulichtern ausgestattete vorbeifahrende Auto doppelt gesehen hat und dann dachte, sich davor stellen und Faxen machen zu muessen, solche Situationen konnten dazu fuehren, dass man in einer Zelle aufgewacht ist. Oder nach einer Demonstration aus einem Zellenfenster herauszurufen “Usse mit d’ Gefangene, ine mit dr Schmier“ brauchte ein wenig Mut, der einen allerdings schnell verliess, als die Zellentuer aufging und der Aufseher – im Schlepptau einen kraeftigen Kalfaktor – meinte, ob man das nochmal bruellen wolle, obwohl die anderen Gefangen in ihrer Nachtruhe gestoert wuerden. Ausserdem waren wir damals ueberzeugt, dass die notwendige radikale politische Veraenderung der gesellschaftlichen Verhaeltnisse von Menschen, die sich am Rand der Gesellschaft befinden, getragen werden sollte, da sie ja extremen Bedingungen ausgesetzt sind und in diesem Sinne nichts mehr zu verlieren haetten. Dazu gehoerten ja auch die Gefangenen. Wir sahen sie deshalb als unsere natuerlichen Verbuendeten an. Sie allerdings uns nicht immer. Ernster wurde es dann, als ich selber rechtskraeftig verurteilt wurde. Mit der Auflage, dass die Gefaengnisstrafe vollzogen werden wuerde, wenn ich nochmal etwas Boeses anstelle. Ausserdem sollte ich in diesem Fall dann noch des Landes verwiesen werden. Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht und ich verlegte meine Aktivitaeten auf eine andere Ebene. Machte eine Lehre und studierte Filmwissenschaft und Ethnologie. Filme machen kann zwar auch boese sein, aber ist im Allgemeinen nicht so strafbar. Ich glaube, das sind die Bruchstuecke, die sich zum klaren Wunsch zusammenfuegten, mich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, was passiert, wenn man eingesperrt ist und wie man dann da wieder rauskommt. Rueckblickend musste ich fast zwangslaeufig einen Schritt weiter gehen und erfahren, was mit Menschen geschieht, die wirklich eingesperrt sind. Ich wollte das System Gefaengnis in seinen strukturellen und emotionalen Komponenten begreifen. Die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse zeigen, dass das Leben draussen und drinnen so unterschiedlich nicht ist. Drinnen ist einfach alles konzentrierter und es herrscht ein anderer Zeitfluss, aber die Probleme der Menschen bleiben ziemlich aehnlich. Ich hatte ja die Gelegenheit das Drehbuch ausfuehrlich in der Gefangenlesegruppe der Sicherheitsabteilung in der Strafanstalt Poeschwies zu diskutieren. Das war sehr aufschlussreich und inspirierend. Beeindruckt hat mich der Humor der Insassen, eben der Galgenhumor der Gefangenen. Den habe ich gerne mitgenommen. Auf dieser Grundlage wuchs “Chicken Mexicaine“.

MK: Sie haben sehr akribisch recherchiert, viele Gespraeche gefuehrt und selbst in dem Gefaengnis gelebt, um die Atmosphaere ueber einen laengeren Zeitraum mitzukriegen. Das ist schon fast die Vorbereitung fuer einen Dokumentarfilm, es ist aber doch ein Spielfilm daraus geworden. Woher kam da die Fiktion? Was hat sich da in ihrer Phantasie abgespielt, dass auf dieser fast schon dokumentarischen Grundlage eine erfundene, fiktionale Geschichte entstand?

AB: Der Prozess ist eigentlich ganz einfach. Es ist das gleiche, ob ich einen Spielfilm oder Dokumentarfilme mache. In beiden Faellen findet ein Prozess des Verdichtens statt. Ich setze mich der Situation aus, schaue sie mir an und versuche sie zu erleben. Letzteres manchmal in bescheidenen Masse, da ich mich nur schwer mit jemandem gleichsetzen koennte oder wollte, der ein Toetungsdelikt begangen hat oder der in Bedingungen aufgewachsen ist, die einen frueh lehren mit kriminellen Handlungen zu ueberleben. Aber es war mir immer schon klar, dass diese Menge an Erlebnissen und Informationen dem Publikum nur in einer dichten Form zugefuehrt werden kann. Es konnte nicht ein Portrait ueber einen Gefangenen entstehen. Ich musste in diesem Prozess des Verdichtens ein Stueck weiter gehen, Handlungsfragmente und Anekdoten zusammenbringen, die Auseinandersetzung in Dialoge kleiden, und zwar in einer Sprache, die ich selber entwerfe und schreibe. Ich war der Schwamm, der sich in der Recherche voll gesogen hat und dann aus allen Poren tropfte. Jetzt musste ich mich ausdruecken, um ein Konzentrat zu gewinnen; diese erste Pressung schiesslich wieder konzentrieren und noch mal aufkochen. Der Vorgang wiederholt sich solange immer wieder, bis ich den Figuren langsam trauen konnte und sie selbststaendig wurden und deshalb auch vorsichtig tastend die Handlung bestimmten. Sich darauf einzulassen, alles immer wieder in Frage zu stellen, braucht Mut und Kraft. In dem Moment kam mir viel Unterstuetzung von aussen entgegen, die ich dringend noetig hatte, denn dieser Prozess war eine tiefgreifende Erfahrung, der ich mich auch erst zu oeffnen hatte. Das war der entscheidende Unterschied zum bisherigen dokumentarischen Arbeiten, das mir grossen Spass gemacht hat. Auf der anderen Seite habe ich beim dokumentarischen Arbeiten immer – sogar bei meiner fernsehjournalistischen Taetigkeit – auch inszeniert gearbeitet. Den Leuten, die ich interviewt habe oder die vor der Kamera agierten, habe ich immer klar gesagt, dass sie sich auf einer Buehne bewegen und sich selber spielen. Bei der Fiktion ist nun die Veraenderung, dass die Buehne fuer Schauspieler geoeffnet wird, die eine Figur spielen, sich selber per Koerper in eine Figur reingeben. Das war eine Konzentration, eine Verdichtungsstufe mehr, die grossartige Gestaltungsmoeglichkeiten eroeffnete. Mir war von Anfang an klar, dass ich diesen Konzentrationsprozess wagen und damit zum Publikum hingehen will. Ich bin es meinen Erfahrungen schuldig, sie auf ihre Essenz zurueckzubuchstabieren. Ich will mit der Verdichtung den Erfahrungen gerecht werden.

MK: Kann man sagen, die Entwicklung vom Dokumentarfilm zum Spielfilm war folgerichtig?

AB: Ja. So wie ich das dokumentarische Arbeiten begriffen habe und von der Art her, wie ich an meinem Dokumentarfilm "Sammlerglueck & Mehrwegflaschen" gearbeitet habe. Der eine Flaschenfischer Pascal Haas haette beispielsweise gut mitspielen koennen. Ich habe lange versucht mit Laien zu arbeiten und habe auf der Strasse Leute angesprochen, die ich dann mit ins Gefaengnis genommen habe, um zu improvisieren. Sie hatten immer einen enormen Druck und in der Improvisation konnten sie die Situation sehr gut schildern. Allerdings waren Laien praktisch nicht faehig, die von mir geschriebenen Texte zu sprechen. So stand ich an einem Scheidepunkt. Haette ich weiter mit Laien gearbeitet, dann waere ich gezwungen gewesen, mich ihrer Sprache zu bedienen und direkt mit ihnen zusammen das Fundament zu entwickeln, auf dem dann die Figuren aufbauen. Die andere Moeglichkeit war, an dem von mir geschriebenen Text – der Verdichtung auf der Sprachebene – festzuhalten und mit professionellen Schauspielern zusammen zu arbeiten. Das erlaubt natuerlich, schon auf einem viel weiter entwickelten Niveau an die Figuren heranzugehen. Dabei kamen mir aber die mit Laien gemachten Erfahrungen wieder zu gute. Schliesslich hatte ich mit Bruno Cathomas das Glueck, mit einem sehr erfahrenen Schauspieler zusammen zu arbeiten. Zu seinen Spezialitaeten gehoert, dass er mein Verstaendnis des Helden Roby Schmucker – kurz vor dem Ausbruch stehend, das leichte Schwirren ueber dem zurueckgedraengten Amok – als Grundlage der Figur vollkommen verinnerlicht hat. Das hab ich schon gespuert in der wunderschoenen Inszenierung des "Woyzeck" von Thomas Ostermeier an der Schaubuehne in Berlin. Da hat mich sein Spiel restlos begeistert.

MK: Wie sind Sie auf Bruno Cathomas gekommen? Welche Beziehung haben Sie als Regisseur zu ihm aufgebaut, um diesen Roby Schmucker, der von Ihnen vor der ersten Begegnung mit Bruno Cathomas bereits sehr scharf charakterisiert worden war, im Schauspiel zu Fleisch und Blut werden lassen? Wie hat sich die Zusammenarbeit entwickelt?

AB: Bevor ich mich mit der Besetzung auseinandergesetzt habe, habe ich von den wichtigen sechs Sprechrollen Biografien geschrieben. Diese Biografien fangen mit dem Geburtsgewicht an und hoeren an dem Tag auf, an welchem die Figuren in das Gefaengnis eintreten und die Geschichte von „Chicken Mexicaine“ anfaengt. Schmucker kommt mit 39 Jahren ins Gefaengnis. Er hat also bis dahin schon einiges erlebt. Auf Bruno Cathomas stiess ich, nachdem ich mit einem anderen Schauspieler schon angefangen hatte, zu arbeiten. In dieser Zusammenarbeit habe ich dann gemerkt, dass dieser mir keinen Platz gibt, sich mir nicht oeffnet und mich nicht in sein Geheimnis blicken laesst. Da sah ich als Regisseur, dessen Erfahrungsschatz noch klein war, keinerlei Moeglichkeit zur Gestaltung. Ich scheute diese Zusammenarbeit dann eher. Dann habe ich ein Probenfoto von Bruno gesehen, nur ein Bild, auf welchem er eine extreme Praesenz ausstrahlte. Er lachte und stand einfach da – unmittelbar. Aufgrund dieses Fotos habe ich ein wenig recherchiert, habe "Viehjud Levi" von Didi Danquart gesehen, wo er einen leicht gauklerhaften, in der Unschaerfe stehenden juedischen Viehaendler spielt. Darauf rief ich ihn an und schickte ihm das Drehbuch von „Chicken Mexicaine“. Er fand das Drehbuch interessant, vor allem die konzentrierte Sprache hatte es ihm angetan, was mich natuerlich begeistert hat. Das war ein gutes Jahr vor Drehbeginn. Bei unserem ersten Treffen stellte er als Bedingung fuer eine weitere Zusammenarbeit, dass wir proben muessen. Er verlangte also genau das, was in der Zusammenarbeit mit dem anderen Schauspieler nicht funktionierte. In diesem Moment oeffnete sich sofort der gigantische Raum des Versuchens, des sich Herantastens. Ausserdem gingen wir gemeinsam ein grosses Risiko ein, denn der Film war finanziell zu diesem Zeitpunkt bei weitem noch nicht gesichert. Aber mit Bruno entwickelte sich eine gewisse Verwandtschaft. Bevor Bruno zum Theater und zur Schauspielkunst kam, hat er als Schlosser gearbeitet und in der Werkstatt Arien gesungen. Er hat den Kaspar gemacht, ohne zu wissen, dass man Schauspiel lernen kann, was er dann nachher auch sehr erfolgreich gemacht hat. So hat er die grobschlaechtige Welt der Handwerks verlassen um sie mit der sensibleren Welt des Theaters einzutauschen. Diese Momente, das Sprengen von Ketten, kenne ich aus meinem Leben sehr stark. Ich habe ebenfalls eine Lehre gemacht, fuehlte mich da zu den anderen bald sehr nahe, bald aber auch sehr fremd. Und auf dieser Grundlage ist unsere Zusammenarbeit entstanden, die fuer mich sehr lehrreich war. Wir waren faehig, den emotionalen Wechsel der Figur, das Kippen von einem Gemuetszustand in den andern, im Handlungsablauf genau festzulegen. Das bedingte, dass ich in den Proben, wie in den Dreharbeiten, eine unmittelbare, physische Naehe zu ihm aufrecht erhielt. Deshalb habe ich mir saemtliche Videoausspielungen verboten. Wir haben eine Praxis des genausten Einstellens entwickelt, um dem Sprachrhythmus des Texts gerecht zu werden und auch dem emotionalen Pendeln der Figur Gestalt zu geben. Wir haben ausgelotet, inwiefern die Extreme des Ausschlagens moeglich sind. Da gingen wir ziemlich weit. Eine der liebsten und mir nahestehendsten Szene ist, wie der Direktor im Zustand der Verwirrung, seinen Gefangenen Roby Schmucker in die Kapelle hoch holt und ihn fragt, was er nun vorzuweisen habe? Roby, der lange nach etwas gesucht hat, um den Direktor zu erpressen, zeigt ihm sein Beweisstueck. Darauf erwidert der Direktor: "…was nuetzt ihnen ihr Beweis nun?", Roby: „… genaugenommen nichts mehr …“. Waehrend Roby dem Direktor recht gibt, muss Roby zusammenbrechen, jedoch sofort wieder angreifen: Roby: „… aber ich koennte sie entlasten …“. Genau diese Pendelbewegung ist – wie gesagt – Brunos Spezialitaet. Da ist wirklich viel Staerke dabei. Eigentlich haben ein Schauspielensemble und eine Gefaengnispopulation sehr viel gemeinsam. Man ist nahe beieinander und auf Gedeih und Verderb einander ausgeliefert. Dazu kommt, wie im richtigen Knast, dass man sich seine Mitspieler oder Mitgefangenen nicht selber aussuchen kann. Deshalb ist es ein grosser Verdienst von Bruno Cathomas, dass er die Verhaeltnisse in diesem speziellen Gefaengnis kennt. Man ist nur so gut, wie der andere. Bruno weiss, ist sich dessen bewusst, was zur Folge hatte, dass wir mit jungen Schauspielern, beispielsweise mit Oliver Zgorelec – der den Mohammed Hiab spielt – so lange zusammen geprobt haben, bis sie die beiden betreffenden Filmszenen in ausfuehrlichen Proben zusammen erarbeitet haben. Und mit Kyle Popoola, einem Laienschauspieler, der den Charles Mueller spielt, war er sich nicht zu schade, erstmal die Grundlagen zu vermitteln.

MK: Wir haben die Figur des Roby Schmucker besprochen und auch Ihre persoenliche Naehe zur Figur desselben. Nun gibt es in „Chicken Mexicaine“ auch die Gegenseite, den Direktor, der sich so direkt nicht das holt, was er will oder jedenfalls nicht so wie der Roby Schmucker das machen wuerde. Er ist eher ein Kontrollmensch, der eine Fassade aufbaut, die Konventionen beachtet, obschon er doch auch den einen oder anderen Bruch in seiner Biografie vorzuweisen hat. Ist Ihnen persoenlich diese Figur des Direktors auch bekannt? Oder ist diese Art zu leben, diese Art aufzutreten nicht eher ein Gegenpol mit dem Sie persoenlich keine gemeinsamen Erfahrungen teilen?

AB: Man weiss ja, dass man oft ein bisschen etwas anderes sagt, als man wirklich meint. Zur Grundlage von Schwerdfegers Figur gehoert, dass sie in den Bedingungen eingespannt ist, unter welcher sie selbst leidet. Dieses Leiden dann aber sublimiert und sich in einer noch staerkeren Abneigung gegen alle Kraefte stellt, die die Ketten sprengen wuerden. Diese Haltung spiegelt sich nicht zuletzt in dem Konflikt mit seinem Sohn wider. Er sichert auf diese gewalttaetige Art die Strukturen, obwohl er selbst unter den Strukturen leidet. Das ist ein Mechanismus, der mir sicher bekannt ist, aber ich versuche doch diesem Vorgang in meinem Leben wenig Platz zu lassen. In der Recherche interessierte mich die von einem Aufseher formulierte Aussage, sie seien, gleich wie die Gefangenen, eine Subkultur. Demzufolge ist das Gefaengnis eine Insel, auf der der gesellschaftliche Auftrag - die Verwaltung einer ausgesprochenen Strafe mit dem Ziel der Resozialisierung - ausgefuehrt wird. Dieser Auftrag wird in unterschiedlicher Form wahrgenommen. Einerseits gibt es engagierte Leute, die an das Gute des Menschen glauben, das sie halten und schuetzen wollen. Das kann dann ganz lapidar heissen: "Frueher war ich Metzger und dann wollte ich was mit Menschen zu tun haben, jetzt bin ich Aufseher". Andererseits gibt es solche, die sich abgrenzen wollen und in denen durchaus etwas Gewalttaetiges schlummert: "Wenn es sein muss, muss man schon zupacken koennen. Die Sprache versteht dann jeder" und im Gesicht liegt ein leichtes Schmunzeln. Aber grundsaetzlich ist die koerperliche Gewalttaetigkeit in den Schweizer Gefaengnissen geringer als draussen. Hingegen hat die Hausordnung in der ehemaligen Basler Strafanstalt einen Umfang von mehr als 30 Seiten. Sie regelt das Leben akribisch und ist in Worte gegossener Ausdruck wie an der Demarkationslinie zwischen dem Wilden und der Norm, strukturelle Gewalt angesagt ist. Da hat es Spass gemacht in "Chicken Mexicaine" eine Szene zu schreiben, in der die Hausordnung verbrannt wird. Beim Direktor Johannes Schwerdfeger war mir schnell klar, dass er nicht einfach der Boesewicht ist, sondern einer, der sich als jemand begreift, der einen Auftrag hat und diesen nach bestem Wissen und Gewissen auszufuehren versucht. Er geraet erst ins Wanken, als die Regierung beschliesst, sein Gefaengnis zu schliessen, denn sein Selbstwertgefuehl baut er auf Anerkennung auf, die von aussen kommt. Schwerdfeger ist Jurist. Es gibt beispielsweise Theologen als Gefaengnisdirektoren, aber auch Sozialarbeiter oder Ingenieure. Der Gefaengnisdirektor an sich, das ist ja kein Lernberuf, sondern ein Beruf mit dem Anforderungsprofil eines Generalisten. Ein Gefaengnisdirektor hat eine relativ grosse Macht. Er kann die gesamte Kultur eines Knasts bestimmen. Er kann, wie ein Kapitaen auf einem Schiff, Strafen aussprechen. Oft wird er Papst genannt. Ein Gefaengnisdirektor mit dem ich mich mehrere Male unterhalten habe, hat bei mir einen starken Eindruck hinterlassen, da er sehr liberal schien. Er richtete sich nach dem Grundsatz, dass ein Gefaengnis gut funktioniere, wenn ordentlich gearbeitet werde und keine Gewalt geduldet werde. Ein Grundsatz, der auch meinen Gefaengnisdirektor leitet. Fuer Peter Ruehring als Darsteller dieser Figur war es eine Herausforderung, einen nuechternen, streckenweise hart kalkulierenden, strategisch denkenden Menschen zu spielen. Der Direktor geraet durch aeussere Einfluesse aus der Form und die daraus resultierende innere Entwicklung hatte Peter Ruehring sichtbar zu machen. Dieser Balanceakt ist ihm gut gelungen.

MK: Das Schauspiel ist das eine. Aber auf der anderen Seite mussten Sie ja waehrend der Dreharbeiten mit einem technischen Stab zusammen arbeiten. Wie sah die Zusammenarbeit mit dem Kameramann aus? Haben Sie im Vorfeld ein Kamerakonzept entwickelt?

AB: Waehrend den Proben mit den Schauspielern, habe ich ohne Kamera gearbeitet. Allerdings habe ich mich als Person im Raum so positioniert, wie die Kamera stehen koennte. Als nun der technische Apparat waehrend den Dreharbeiten die Situation mitbestimmte, kam es manchmal zum Konflikt: Der von den Schauspielern gross bespielte Raum war von der Kamera nicht zu bewaeltigen. In diesem Konflikt zwischen freiem Spiel und der Notwendigkeit der Aufloesung in einzelne Einstellungen oeffnete sich ein grosses gestalterisches Feld. Das zu nutzen bedeutete aber, dass wir faehig waren, die Kraefte aus dem Konflikt in positive Energie umzuwandeln. Dass dies geklappt hat, ist ein massgeblicher Verdienst vom Kameramann Tommy Wuethrich. Fuer ihn stand nie eine sich selber zelebrierende Kamera im Vordergrund. Jede Bewegung, jede Einstellungsgroesse und jede Kameraposition musste fuer ihn in sich, eine dramaturgische Notwendigkeit wiederspiegeln. Deshalb haben wir ausfuehrlich ueber unser Verstaendnis der Geschichte von „Chicken Mexicaine“ geredet, bevor wir irgendwelche kameraspezifischen Fragen angegangen sind. Auf dieser Grundlage entstand ein Kamerakonzept, das sich an der gebauten Struktur des Gefaengnisses orientiert. Zentral war dabei, dass wir versucht haben, die Architektur des panoptischen Blicks, die ja ermoeglicht, alles von einem Punkt aus einzusehen, in ihrer allumfassenden Groesse mit der Kamera umzusetzen. Deshalb haben wir dann die Handlungen der Repraesentanten des panoptischen Blicks – also die Szenen des Gefaengnispersonals – in sehr kontrolliert gefahrenen Kamerabewegungen aufgeloest. Dem gegenueber arbeiteten wir in den Zellen mit einer sensiblen, nahen Handkamera, um den intimen Momenten unter den Gefangenen den entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Diesem Konzept sind wir ueber grosse Strecken hin im Gefaengnis selber treu geblieben. Zumal wir ja auf 35 mm gedreht haben und so uns auch aus Kostengruenden gerne der Stringenz hingegeben haben, die das Format verlangt. Das hat sich auch im niedrigen Drehverhaeltnis von 1:7 niedergeschlagen.

MK: Die Kamera hat Ihre Geschichte sichtbar gemacht, die Musik macht sie hoerbar. Im Film treten ja verschiedene, bekannte Musiker auf. Welche Rolle spielt die Musik in "Chicken Mexicaine"?

AB: In einem Gefaengnis spielt die Musik und ueberhaupt die ganze Akustik eine unheimlich wichtige Rolle. Es gibt den Ausspruch, dass einer, der sich mit Gefaengnissen auskennt – ob Gefangener oder Aufseher – mit geschlossenen Augen und gespitzten Ohren genau erkennt, in welchem Zustand sich der Knast befindet. Nachdem das alte staedtische Gefaengnis „Schaellemaetteli“ geschlossen wurde, sagten manche Aufseher, dass sie nun in einem Neubau, einem Betonbau arbeiten, wo sie sich selbst nicht hoeren. Es knarre nicht, der Boden gaebe nichts wieder. Wenn du im Gefaengnis die Stadt, das Vogelgezwitscher und das Rauschen einer Wasserleitung hoerst, hat das eine ganz andere Bedeutung als in deinem Alltag draussen, wo du viel mehr in diesen Alltagsgeraeuschen eingebettet bist. Die Mauern stellen eine Art Filter dar, so dass man genauer hinhoert. Ich erkannte, dass die Wichtigkeit der Akustik, eine Filmmusik verlangt, die aus den Geraeuschen und der emotionalen Art der Wahrnehmung dieser Geraeusche wachsen muss. So habe ich waehrend eines ganzen Tages und einer Nacht in meiner Zelle gesessen und nur zugehoert und ein Geraeuschprotokoll aufgestellt. Mit Hilfe dieser Skizzen komponierte Daniel Almada die Filmmusik. Wir versuchten mit verschiedenen Geraeuschen – beispielsweise sich schliessenden Tueren oder rasselnden Schluesselbunden – einen Geraeuschteppich zu einem musikalischen Motiv umzuarbeiten. Im Keller spitzt sich der Konflikt zwischen den Antagonisten Roby Schmucker als Gefangener und Johannes Schwerdfeger als Direktor zu. In den Gewoelben der Untergeschosse des Gefaengnisses geht es weder um resozialisierende Ansaetze noch um sozialarbeiterische Absichten, sondern um die ursaechliche Auseinandersetzung zweier Menschen: um Schuld und Suehne. Dieser Umstand verlangte eine eigene tonale Gestaltung. So besitzt der Keller grundsaetzlich eine eigene komponierte Geraeuschatmosphaere, zu welcher wir fuer gewisse Szenen eine sehr minimalistische Musik entwickelt haben. Das ist die eine musikalische Ebene des Films. Die andere Ebene handelt vom Begehren, frei und gluecklich zu sein. Wir entwickelten eine Melodie, die das Sehnsuchtsmotiv traegt. In unterschiedlicher Instrumentierung greift diese Melodie im Verlauf des Films ein. Es war ein Entscheid des Geschmacks, im hoechsten Gefuehl der Freiheit diese Melodie auf dem Bandoneon zu spielen. Die konzeptionellen Fragen bezueglich der Musik habe ich bereits waehrend der Dreharbeiten mit Daniel diskutiert. Nach dem Rohschnitt haben wir uns an die einzelnen Szenen gewagt. Wir versuchten mit der Musik eine eigene Dramaturgie zu fahren. Manchmal nimmt sie etwas voraus, was noch gar nicht da ist. Dann wiederum unterstreicht sie etwas, was schon lange vorbei ist. Auf keinen Fall wollten wir mit Hilfe der Musik, Schluesselszenen zusaetzlich emotionalisieren. So habe ich den entscheidenden Kuss zwischen den Gefangenen Mohammed und Roby bewusst ohne Musik gelassen und lasse die emotionale Situation dann nach der betreffenden Szene mit Musik noch einmal anklingen. Neben der musikalischen Komposition ist noch Musik in der erzaehlten Welt des Films selbst verankert. Es gibt einen Auftritt einer Punkband, ein wunderschoenes raetoromanisches Lied, gesungen von Roby alias Bruno Cathomas, und einen Gastauftritt von Tony Vescoli und Gimma als Gefangene. Beim Schreiben habe ich oft Johnny Cash gehoert und es wurde mir immer bewusster, dass wir eine einfache, klare, maennliche Musik brauchen, die vom Leiden erzaehlt. Die Musikrechte von Johnny Cash zu einem fuer uns realistischen Preis zu kriegen ist unmoeglich. So kamen wir auf die Idee, ein raetoromanisches Volkslied zu gebrauchen, da ja unser Held aus Graubuenden stammt und sein erster Satz in „Chicken Mexicaine“ raetoromanisch gesprochen ist. Bruno kannte einen psychedelischen Liedermacherhit aus den 70ern, der unseren Wuenschen entsprach. Wir nahmen den Text und legten eine Melodie darunter, die an Countrylieder von Johnny Cash erinnert und das Lied wieder aufleben laesst. Bei der Abdankungszene – einem Gottesdienst in der Gefaengniskapelle – spielen Tony Vescoli und Gimma im Duett – ein alter Rocker und ein neuer Rapper. Das geschah auf den Impuls des Verleihers, der vorschlug, Schweizer Musik in den Film zu integrieren, da es ja ein Schweizer Film sei. Der Versuch, einen Gefangenenchor mit bekannten Musikern zusammenzustellen scheiterte, da die Gagenvorstellungen gewisser Schweizer Tonkuenstler viel zu hoch war. Die Idee kam mir dann als eine ziemlich aufgepfropfte Sache vor.
Ich beschloss dieses Projekt abzubrechen, da es mir nicht sinnvoll erschien, ein die Dramaturgie der Geschichte stoerendes Vermarktungsmittel derartig aufzubauen. Ich habe es abgeblasen und allen von mir angefragten Musikern eine nette Mail geschrieben. Auf diese Mail antwortete Tony Vescoli, dass er die Absage bedaure, da er doch so gerne mal wieder in einem Gefaengnis gespielt haette. Darauf habe ich ihn angerufen. Er sagte, er habe bis in die achtziger Jahre regelmaessig in Gefaengnissen aufgespielt. Es seien immer weniger Leute gekommen und teilweise seien sie auch waehrend seiner Stuecke aufgestanden und raus gegangen, worauf er seinen Kumpel – ein Gefaengnisinsasse, der ihn urspruenglich um die Auftritte gebeten habe – fragte, warum die Leute seine Konzerte verliessen, ob sie ihn womoeglich nicht toll faenden. Der Kumpel erwiderte: „Ne ne, es ist jetzt, wir haben jetzt in den Zellen einen Fernseher, verstehst du und jetzt kommt deren Lieblingssendung.“
Ich dachte mir, wenn schon einer sagt, er habe jahrelang im Knast gespielt, dann gehoert der zu uns. Und so gehoerte er zu uns. Ebenso gehoerte Gimma zu uns, denn mit ihm verhaelt es sich aehnlich. Auch er weiss, was es am Rand gibt und dass der Rand oftmals nicht so gerne gesehen wird, da er nicht ordentlich zugeschnitten ist.
Wir haben also doch noch ein Duett „Am Roby sy Waeg“ komponiert, das sich sehr schoen in den Film einfuegt und zum Schluss des Films noch einmal ganz klar sagt, worum es geht: "Roby, da oerangi Waeg, da wirsch du jezt goh uns armi Siche losch do stoh … Roby viel Glueck, chum guet hai …“

MK: Wie haben die verschieden Bestandteile des Films angesprochen. Doch „Chicken Mexicaine“ hat ja eine Produktionsgeschichte. Die Zeit vor den Dreharbeiten waren sicher von der Notwendigkeit, die finanziellen Mittel beschaffen zu muessen, gepraegt. Wie war das?
AB: Sicher, die finanziellen Mittel fuer solch einen Kinospielfilm zu beschaffen, ist nicht einfach. Ausserdem kam noch dazu: „Chicken Mexicaine“ ist mein erster Spielfilm und dann habe ich auch nicht gerade den klassischen Ausbildungsweg ueber eine Filmschule beschritten. Also Autodidakt, als erstes gleich einen Kinospielfilm, da hielten mich nicht wenige fuer verrueckt. Aber ich war hartnaeckig, ausserdem ging es nicht anders: ich musste „Chicken Mexicaine“ machen, denn ich musste ausbrechen, wollte raus aus dem bisherigen. Um nicht total von den Entscheiden der Foerdergremien abhaengig zu sein – das erzeugt naemlich eine durchdringende Ohnmacht – habe ich mit zwei weiteren Verschwoerern einen sogenannten Plan Z gefahren. Wenn kein Geld kommt, dann trotzdem halt mit Video, selber Kamera machen und dergleichen. Aber die Mittel sind zusammengekommen. Zurueckblickend bin ich ein wenig stolz, dass wir zu dritt – Triluna Film AG, Insert FILM AG und biehler.film – die Produktion von „Chicken Mexicaine“ geschultert haben.

MK: Kommen wir zu der Frage nach dem danach, weitere Projekte: Was steht an? Wir hatten jetzt Ihren Maennerfilm, kommt jetzt ein Frauenfilm?

AB: Ja, "Chicken mexicaine" schildert die Geschichte aus der Perspektive eines Mannes. Tatsaechlich ist der naechste Film eine Geschichte, die aus der Perspektive der Frau erzaehlen moechte. Wir hatten den Ausbruch. Was kommt nach dem Ausbruch? Es muss die Liebe sein! Aber nicht Liebe im Sinn einer romantischen Verklaerung, die uns alle auf die Wolken hebt und in besseren Verhaeltnissen sieht. In "hello" moechte ich die Geschichte zwischen den Polen Liebe und Handel wachsen lassen. Drei Menschen, zwei Maenner und eine Frau sind in einander verstrickt. Geografisch denke ich den gesellschaftlichen Rand hier mit dem Leben im Sueden von Vietnam zu verknuepfen. Dazwischen wird es eine Verbindung geben. Das ist die eine Schiene. Die andere Schiene ist, dass mir nach dem Ausbruch bei "Chicken mexicaine", in dem ja eine im Hintergrund klirrende Maennerliebe erkannt werden kann. Das ist unausgesprochen. Es sagte mal jemand: „He, da muss Sex rein, die muessen voegeln.“ Danach war mir damals ueberhaupt nicht. Nun ist mir schon eher danach. Ich will klar kriegen, welche sexuellen Identitaeten moeglich sind, wie diese ueber Liebesprojektionen entstehen und wie sie zwischen den Geschlechtern hin und her gehen. Das soll „hello“ schildern, eigentlich eine Anlage fuer einen globalen Film von unten.
Und was kommt nach der Liebe? Da kommt der Tod. Und davon handelt dann der uebernaechste Film „Das Seemansgrab“. Ein Film, der der Frage nachgeht, wie man gluecklich sterben kann